ANJA LIEDTKE | WUNDERBARE GESCHICHTEN, DIE BEWEGEN
Foto: Anja Liedtke

Text: Oliver Bartkowski

Fotos: Anja Liedtke

ANJA LIEDTKE | WUNDERBARE GESCHICHTEN, DIE BEWEGEN

Die Bochumer Autorin Anja Liedtke ist schon lange keine Unbekannte mehr. Bereits 1996 wurde sie mit dem renommierten Bettina-von-Arnim-Preis ausgezeichnet. Nun sind fast zeitgleich zwei Bücher von ihr erschienen und für die Redaktion gab es genügend Gründe, Frau Liedtke einmal persönlich zu treffen.

Frau Liedtke, direkt zwei neue Bücher. Sie sind aber gerade sehr kreativ, oder?
Ich wandere durch die Natur, das bringt nicht nur Sauerstoff ins Hirn und in die Blutbahnen, das regt auch alle Sinne an, und die bekommen mehr zu tun und werden stärker gereizt als indoor. Wörter und Sätze, die das Erlebte schildern wollen, bekommen durch das Gehen einen Rhythmus, und der Versuch, das Wahrgenommene zu beschreiben, wird zum Spiel. Dabei kommen Neuschöpfungen und ungewöhnliche Zusammensetzungen zustande. Insbesondere bei Farbadjektiven, aber auch bei der Suche nach präzisen Ausdrücken für Gerüche oder Gehörtes. Beim Korrigieren der Druckfahne habe ich meine Verlagsleiterin Marietta Thien mehrmals gefragt, ob es okay ist, wenn ich an dieser oder jener Stelle die Grammatik frei variiere. Da ich jeden einzelnen Fall begründen kann, stimmte sie natürlich zu. Zu meiner Überraschung konnte sie darüber hinaus aber auch sofort nachvollziehen, was mich dazu bewegt hat.

Uns liegt leider nur „Der Himmel ist altes Silber“ vor. Sie nehmen ihre Leserinnen und Leser mit auf eine Reise durch Flora und Fauna. In diesem Fall z. B. Ruhrpott, Wales, Italien, aber auch Lenne und Bayern, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Wie ist denn überhaupt die Idee zu einem solchen Buch entstanden?
Im August letzten Jahres hatte ich ein Stipendium in Meran, von der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte. Ich schrieb unter dem Motto: Natur ist ein Menschenrecht. Damit meine ich: Qua seiner Geburt auf diesem Planeten müsste eigentlich jeder Mensch nicht allein das Recht auf frisches Wasser und reine Luft haben, sondern auch das Recht auf Ruhe, Rückzug, Raum, sich zu bewegen, und das Recht auf ein Stück Land, auf dem Menschen gesunde Nahrung für sich oder andere anbauen können. Außerdem das Recht auf die Begegnung mit Pflanzen und Tieren, die wir brauchen, um uns sowohl abzugrenzen als auch zu identifizieren und unser eigenes Menschsein zu definieren. Rund um Meran beobachtete, belauschte und befühlte ich die vom Verschwinden gezeichnete Natur, um sie zu genießen, zu bewahren und das Erlebte in poetischer Sprache weiterzugeben. Die Gedichte und Prosa erschienen im Achterverlag unter dem Titel Von Hängen fallen – Meraner Sammlung. Es ist eine Kooperation mit meinem in Kyoto lebenden Mitstipendiaten Achim Stegmüller und der Bochumer Bildenden Künstlerin Sabine Hey. Das Buch wurde zum ersten Mal auf dem Literaturfestival in Weinheim am 6. Oktober 2023 und dann auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt.

Mit dem Band Der Himmel ist altes Silber habe ich früher begonnen. Landschaftsschilderungen bildeten bereits den Hintergrund meiner Romanhandlungen, insbesondere in „Stern über Europa“, einer Utopie über die sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft. Einige breiteten sich zu eigenständigen Reiseerzählungen aus. Schließlich suchte ich eine Literaturform, in der die Natur ihr Eigenleben entfalten kann wie die Libelle ihre Flügel nach dem Schlüpfen. Mit der Gattung „Nature Writing“ habe ich diesen Traum verwirklicht.

Sie reisen anscheinend viel. Sind Sie für das Buch erst gereist, als die Idee stand, oder ist die Idee bei einer Reise entstanden?
Diejenigen Texte, die an der Ruhr spielen, sind vorwiegend in der Coronazeit entstanden. Ehrlich gesagt habe ich es genossen, dass keine Flugzeuge über Bochum-Dahlhausen flogen und keine Automotoren brummten. Dahlhausen war plötzlich ein Urlaubsort geworden, wo ich Ruhe und Erholung fand, tief durchatmete, wanderte und Flora und Fauna beobachtete, beschnüffelte und probierte, was lecker war. Die Texte über Wupper und Lenne sind beim Fliegenfischen entstanden. Ich hatte mehr Augen für die Eisvögel, die an mir vorbei übers Wasser schossen, und für die Nutria, die sich an der Wasserkante umarmten und dabei ihre orangefarbenen Schneidezähne in die Pelze kuschelten, als dafür, den künstlichen Fliegenköder sanft auf die Wasseroberfläche zu werfen. Statt an den Köder schwammen die kleinen Forellen zwischen meinen Knien herum und ließen ihre bunten Punkte glänzen. Der Text Die Grenze riecht nach Rüben entstand im Rahmen eines Stipendiums des Goethe-Instituts in Tschechien. Ich wohnte im Kloster Broumov an der tschechisch-polnischen Grenze und sollte zum Thema Vor der Grenze hinter der Grenze schreiben. Es war Februar. Ich wanderte teils zu Fuß, teils auf Langlaufski auf der Grenze entlang, um herauszufinden, ob es dies- und jenseits anders aussähe oder ob sich meine These bestätigte: Die Natur kennt keine Grenzen. Und so hat jeder Text einen anderen Entstehungsgrund.

Wie schwer ist es für Sie Prosa zu schreiben, oder besser gefragt, geht Ihnen das leicht von der Hand?
Das Prosaschreiben bin ich von jeher gewohnt. Die Lyrik ist neu für mich. Ich habe immer gesagt, ich schreibe niemals Gedichte. Aber die Natur bietet eine solche Vielfalt, die lässt sich nicht schildern. Da waren zu viele Dimensionen, zu viele Ebenen, zu viele Sinneswahrnehmungen, um sie linear aufzuschreiben. Was tun? Ich konnte nicht nur auswählen, ich musste auch verknappen und reduzieren, Essenzen suchen und finden. Auf diesem Weg bin ich zu Prosagedichten und insbesondere im Meranbuch auch zu Gedichten gekommen.

„Schwimmen wie ein Delphin oder Bowies Butler“ war ja ein kleiner Hit, mit dem Sie durch die Republik gereist sind. Nun widmen Sie sich einem völlig anderen Thema. Genießen Sie die Vielseitigkeit?
Und ob ich die Vielseitigkeit genieße! In meinen Romanen habe ich innere Konflikte und Gesellschaftskonflikte gelöst. Nach dem letzten Roman war ich frei. Endlich konnte ich tun, was ich immer schon wollte: In die Natur gehen. Sie riechen und befühlen. Das Wasser der Ruhr umfloss meine Haut, der weiße Hermelin in der Schneelandschaft ließ mich staunen, ich genoss die Natur, um sie in meiner Erinnerung zu bewahren, und meine Erinnerung funktioniert am besten, wenn ich aufschreibe, was ich erlebe.

Darf ich fragen, wie viel Anteil Bochum als Ihre Heimatstadt an den Geschichten hat? Beflügelt Sie das Leben im Ruhrpott im Allgemeinen?
Der Himmel ist altes Silber handelt zu einem gehörigen Teil von der Natur in Bochum. Aber die Stadt ist kein Ort, der mich beflügelt, sondern erdenschwer macht. Wüsten- und Bergluft zum Beispiel sind sanft und sauerstoffgesättigt, die lassen sich tief einatmen, und ich habe das Gefühl, ich spüre die Sättigung des Blutes und werde leicht. In Bochum wandert mein Blick über die feuchte, festgetrampelte Erde, findet Pilze, Kleintiere, Kräuter. Ich wühle im Boden oder steige auf allen vieren einem Tier nach, beobachtet von einem Rotkehlchen, das sich den Latz schon umgebunden hat und darauf wartet, dass ich einen vermoderten Baumstamm umstoße und die Asseln und Larven aufdecke. Andererseits gibt es am Ende der Straße An der alten Fähre am Ruhrufer in Stiepel eine Parkbank, darauf ein QR-Code, über den man einen Text von mir hören kann, der just die Natur rund um die Bank beschreibt. Dort kommen von allen Tieren und Pflanzen Vögel am häufigsten vor. Offenbar beflügelt mich Bochum mehr als ich es bemerke.

Sie sind nun Writer in Residence, Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte, Meran. Wie wichtig ist Ihnen das persönlich?
Sehr wichtig. Ich bin nicht als Touristin unterwegs, sondern habe einen Arbeitsauftrag. Um den zu erfüllen, konzentriere ich mich noch stärker auf die Natur und das Recherchieren und Schreiben. Ich darf einer Arbeit nachgehen, mit der ich mich vollkommen identifiziere. Auch tut mir natürlich die Anerkennung meiner Arbeit gut, die mit einem Stipendium verbunden ist. Wer eines der begehrten Stipendien ergattert, kann nicht allzu schlecht schreiben.

Wann dürfen wir Ihnen mal wieder in Bochum zuhören?
Die Literarische Gesellschaft hat mich eingeladen, im Oval Office des Schauspielhauses zu lesen. Der Termin steht noch nicht fest, entweder 23. Februar, wahrscheinlicher aber 1. März. Am 18. April lese ich in der Stadtteilbibliothek Wiemelhausen um 19:00 Uhr.

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